Chrystyna Nazarkewytsch

1964 geboren, Autorin, Dozentin und literarische Übersetzerin am Lehrstuhl für Deutsche Philologie der Nationalen Franko-Universität Lwiw (Ukraine). Sie übersetzt deutschsprachige Literatur ins Ukrainische. Zu ihren Autoren gehören Terézia Mora, Ilma Rakusa, Jenny Erpenbeck, Ralph Dutli und Natascha Wodin. Straelener Übersetzerpreis 2023.

Ein lyrischer Text braucht eine längere Ruhezeit. Ich meinerseits brauche Distanz zu meinen Argumenten und Interpretationen (…), bevor ich mit den obligatorischen Korrekturen beginne und schließlich den Text wieder zur Seite lege. Das Vorgehen wiederholt sich, bis es in meinem Kopf klickt: Mehr kann ich hier nicht erreichen.

Chrystyna Nazarkewytsch


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schnipp-schnapp – schnipp-schnapp – schnipp-schnapp – – –

wie gut mir die Eintönigkeit und Wachsamkeit dieses kalten Geräusches tut.

ich schneide, schneide konzentriert und sorgfältig, schneide wie besessen, schneide voller Liebe zu denen, die meine Arbeit beschützen soll, schneide voller Hass zu denen, die unser Leben auslöschen wollen, schneide und beruhige mich, verfalle in eine Art Meditieren.

Die Materialität des Stoffes, den ich in gleichmäßige Streifen schneide, lässt mich daran denken, dass der Krieg real ist. Meine Aufgabe hier, im mittelalterlichen Pulverturm meiner Stadt Lwiw, ist, Berge Kleider, Bettwäsche und Tuchballen zu zerschneiden. Stoffschnipsel werden von jungen fröhlichen Student*innen der Lemberger Kunstakademie in große Netze eingeflochten, so werden Tarnnetze hergestellt. Tarnnetze sind Kunstwerke der Kriegszeit. Riesige Netze, die aus Hunderten Tausenden schwarzen, grünen, braunen, grauen, dunkelblauen Stofffetzen hergestellt werden, bilden die beschützenden Engelsflügel, die die Geschoße abwenden sollen. Die Verwandlung alltäglicher Stoffstücke in riesige Stoffbahnen,
die Entfremdung des ursprünglichen Gebrauchszwecks geschieht im Laufe des Tages durch die Bemühungen mehrerer Freiwilligen. Tarnung ist gleich Schutz. Schutz vor Kriminellen, das Land terrorisierenden hauptsächlich jungen Männern mit russischen Pässen. In Gefangenschaft genommen, bereuen diese Männer in die Kamera ihre Taten, versichern es, von nichts „wirklich“ gewusst zu haben, versprechen, nie mehr wieder jeweils das zu tun … Ihre Versicherungen sind auch Tarnung. Ich glaube nicht, dass jemand, der in einem Panzer über Getreidefelder in einem fremden Land fährt und den Boden für Jahrzehnte für jede Ernte unbrauchbar macht, keinen Krieg im Kopf hat.

Aus dem Manuskript

Buchveröffentlichungen von Chrystyna Nazarkewytsch, zuletzt:
Das Gedächtnis einer Nation (mit Claudia Dathe), 2023