Kathrin Schmidt


vergehen

du wirst aufstehn einen fuß verliern und weitergehn.
als wäre nichts geschehn, wird sein gesicht zur seite
schaun, bis dann von unten das jahrhundert aufzieht.
sind blitze ziseliertes zierwerk, das sich plötzlich
zeigt, so bleibt der donnerschlag im off, auf seine
hoheit brauchst du gar nicht warten. nur zarten
stiefeltritten ausweichen, ist keine kunst,
doch kommt von können. von können kommst auch du,
kannst halb im dunkeln stehn und dich
dem erdbewohner zeigen, der nach dir
kommt. wenn er dich sehn will,
muss er sich beeilen. die brandgemalten schatten
stehn für sekunden nur
ganz still.


aus: Blinde Bienen. Gedichte. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010

Buchveröffentlichungen, zuletzt:
Du stirbst nicht. Roman (2009)
GO-IN der Belladonnen. Gedichte. (2000)


Kathrin Schmidt | Geboren 1958 in Gotha, lebt in Berlin. Lyrikerin, Erzählerin, Psychologin, Redakteurin. 

 

Prosa und Poesie verhalten sich in ihrem Fall wie kommunizierende Röhren: Nach oben hin und also ins Offene hinaus entfaltet sich jedes Genre in seiner offenen Fasson, unten aber, am Grund des Schreibens, sind sie eng verbunden. Wodurch? Vorab durch eine schier unbändige Wortfindungslust als dem besten, mithin notwendigen Gegenmittel gegen das Stummwerden aus existentieller Not. Nicht erst seit dem jüngsten Roman, sondern von allem Anfang an war dieses Antidot ein entscheidender Antrieb in Kathrin Schmidts Sprachwerkstatt.


Jochen Hieber