Ernest Wichner

 

Ein Liebesbrief ist auch ein Text

eine Blüte öffnet sich am Herzgewächs
und ob es gut sei wenn ein Text
(man lese als Variante einmal Leben)
es vernünftig findet, daß etwas ist
nicht vielmehr nichts   und eine Blüte
die sich langsam öffnet schön genannt wird
wo kämen wir da hin   und wann
(wenn die Struktur sich deutend
selbst wahrnimmt und versteht)
beginnt wann endet was hier einer
Herzgewächs und Blüte nennt   Bäume
fallen auf ins Firmament und sind
zurückgekoppelt (siehe Reim)   doch
wo bleibt unser Treppenschlund wo
unser Meer dein Wein in meinem Glas
an deinen Lippen meinem Mund   die
Blüte öffnet ihren Rachen zischelt rot
das Herz im himmelblau grundierten
Text liegt quer   und was den Reim
betrifft berührt ihn nicht   erst wird
der Himmel grau dann leer und schloh-
weiß überflaggt doch ich
weiß dein Gesicht nicht mehr

 

aus: „bin ganz wie aufgesperrt“. Gedichte.
Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn 2010

Gedichtbände, zuletzt:
Rückseite der Gesten. Gedichte. (2003)
Die Einzahl der Wolken. Gedichte rumänisch/deutsch (2003)
Steinsuppe. Gedichte. Lyrikedition 2000


Ernest Wichner | Geboren 1952 in Guttenbrunn, Banat/Rumänien, lebt in Berlin. Lyriker, Erzähler, Essayist, Übersetzer, Literaturkritiker, Leiter des Literaturhauses Berlin seit 2003


Alle Nuancen von Liebeswahn und Leid, Pein und Wut, Verrat und Trennung, Qual und Entsetzen werden von Vers zu Vers durchlebt. Wichner thematisiert mit der Liebe zugleich das eigene Schreiben und die Sprache selbst. Positionen und Formen literarischer Vorgänger, zu denen vor allem Petrarca gehört, werden binnenreimend sacht verschoben.

Dorothea von Törne