Norbert Hummelt: 1922 – Wunderjahr der Worte
fotografie
wir kennen nicht ihr mögliches profil
nur diese vorderansicht, leider undatiert
u. ausgelöst von ungeübter hand. doch
gab es blitzlicht, hell wie kandelaber
u. die orale überlieferung. archaisch ist
kein ausdruck: die guckten damals alle
so todernst. wohl schien ihr herz
mit sauerstoff versorgt, sonst könnte sie
sich kaum so aufrecht halten u. säße
nicht so wunderlich drapiert. sonst
deckte das plisseekleid mit dem weiten
wurf nicht so gekonnt den bau der
knochen zu. die muhme spricht nicht, lippen
zugenäht, vielmehr gestrickt. es liegt
das strickzeug tief in ihrem schoß, die
nadeln, wollknäuel. wie es hieß: es mußten
socken her, man wurde nicht gefragt. die
stirn, die wangen: nicht sehr nah verwandt.
doch was ist dann der grund, daß ich das
foto immer ansehn muß. die muhme spricht:
aus: Norbert Hummelt. Zeichen im Schnee.
Luchterhand Literaturverlag 2001.
Buchveröffentlichungen von Norbert Hummelt, zuletzt:
1922 - Wunderjahr der Worte (2022)

Norbert Hummelt | Geboren 1962 in Neuss. Studium der Germanistik und Anglistik in Köln. Verfasst Lyrik und Essays und übersetzt Lyrik aus dem Englischen und Dänischen. Er war Leiter der Kölner Autorenwerkstatt und lehrte unter anderem am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Der Lyriker, Essayist und Übersetzer lebt in Berlin.
Rainer-Malkowski-Preis 2021 für sein lyrisches Gesamtwerk.
Das Jahr 1922 beschreibt er in seinem neuen Buch nun ganz ungebrochen als das Annus mirabilis der modernen Literatur, in dem in einer Art Urknall ein neues literarisches Universum entstand [...].
Michael Braun