Hans-Dieter Gelfert

 

Was ist ein gutes Gedicht?

Bevor die Frage nach der Qualität beantwortet werden kann, muss erst einmal klargestellt werden,was die spezifischen Merkmale eines Gedichts sind. Eine anschauliche Definition könnte lauten: Ein Gedicht ist ein sprachlicher Text in kristalliner Form. Durch das Kristalline unterscheidet es sich von den Milliarden «amorpher» Texte, die die Menschen auf der Erde tagtäglich produzieren und untereinander austauschen. «Amorphe» Texte sind nicht formlos, denn sie gehorchen den Regeln der Grammatik und sind mit Sprachsignalen versehen, die z. B. Ergebenheit, Höflichkeit, Nachdruck oder Ähnliches ausdrücken. Doch die dafür bewusst oder unbewusst eingesetzten formalen Mittel führen so gut wie nie zu einer «kristallinen» Ordnung. Man kann solche Texte umformulieren, ohne dass ihre Aussage oder die intendierte Wirkung verändert werden. Es mag sein, dass eine von diesen Umformulierungen als die stilistisch eleganteste empfunden wird, das wäre dann aber schon ein Urteil über etwas Poetisches. Solange es nur auf die inhaltliche Information ankommt, können selbst Gesetzestexte umformuliert werden, ohne dass ihre rechtliche Aussage in irgendeiner Weise beeinträchtigt wird.


aus: Was ist ein gutes Gedicht?
Eine Einführung in 33 Schritten. München: C.H. Beck, 2016.


Weitere Buchveröffentlichungen:
William Shakespeare in seiner Zeit. (2014)
Charles Dickens der Unnachahmliche. (2011)


Hans-Dieter Gelfert | Geboren 1937 in Großenborau, Schlesien. Studium der Anglistik, Germanistik und Philosophie in Marburg, Edinburgh, London und Berlin. Bis zu seiner Emeritierung im Frühjahr 2000 war er Professor für englische Literatur an der Freien Universität Berlin. Heute arbeitet er als freier Autor und Übersetzer. George F. Kennan Kommentar-Preis 2011.


Dieses Taschenbuch nimmt man gerne immer wieder zur Hand, erfüllt es doch den Grundsatz von Horaz, das Erklären und das Freude-Vermitteln zu verbinden. Man versteht zum Schluss dann auch, dass einander widersprechende Deutungen eines
Gedichts sogar bereichernd sein können.

Bernhard Grabmeyer